Formenlehre: Tutorial 9 – Wiener Klassik: Formen von Sätzen der Instrumentalmusik

Thema und Variationen, Rondo, Adagio-Form; interpunktisches Formmodell – PDF


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Thema und Variationen

Gesamter Satz ist gegliedert in ein in sich abgeschlossenes Thema (A) und eine Folge von dessen Varianten: A' – A'' – A''' etc.
Erscheint als Einzelwerk oder als Teil eines Sonatenzyklus (meist als langsamer Mittelsatz, ggf. auch erster Satz oder Finalsatz)
Thema meist als zwei- oder dreiteilige Liedform gestaltet, basierend auf periodischen und satzartigen Gestalten bzw. deren Kombinationen
Häufige Quellen für Variationsthemen: Volkslieder, bekannte Melodien anderer Komponisten, eigene Themen

Hörbeispiel – Wolfgang Amadeus Mozart: Zwölf Variationen für Klavier über das Lied Ah, vous dirai-je, Maman C-Dur, KV 265 (1778)
Hörbeispiel – Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate A-Dur KV 331 (1784), I. Satz: Tema con variazioni

Variative Prinzipien Merkmale
(a) Figuralvariation nur die musikalische Oberfläche wird verändert, Varianten und Ornamentierungen treten hinzu; häufiges Prinzip: stetige Diminution und rhythmische Beschleunigung im Satzverlauf; Harmonik bleibt stabil
(b) Charaktervariation größere Eingriffe ins Thema: Änderung von Taktart, Dynamik, Tempo, Harmonik, Tongeschlecht etc.
(c) cantus-firmus-Variation kontrapunktische Techniken und Imitationsstrukturen auf Grundlage des Themas (analog zu Chaconne / Choralvariationen), ggf. erweitert zum Fugato oder zur Schlussfuge (etwa bei Reger)
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Joseph Haydn: Streichquartett C-Dur Hob. III:77 (1797), II. Satz: Poco adagio
Quellen: IMSLP | YouTube


Rondoform

Entwicklung aus der Ritornellform bzw. aus dem barocken Rondeau (Rundtanz, häufiger Suitensatz bei frz. Komponisten)
– Barocke Ritornellform: Thema (Ritornell) meist als Fortspinnungstypus, erscheint auch in anderen Tonarten; Episoden in ähnlichem Gestus
– Klassische Rondoform: Thema (Refrain) meist periodenförmig, fast immer in der Grundtonart; Couplets kontrastieren zum Thema

›Gerundetheit‹ des musikalischen Zeitverlaufs: stetige Wiederkehr des Themas, leichte Abwandlung der Reprisen möglich
Reihungsform: Wechsel zwischen Refrains (A-Teile) und Couplets (B, C, D); ggf. verknüpft durch modulierende Überleitungen
Typischerweise als heiterer Schlusssatz in Sonatenwerken (Solo- und Kammermusik) und Solokonzerten, kaum in Symphonien

Hörbeispiel – Joseph Haydn: Klaviersonate C-Dur Hob. XVI:48 (1789), II. Satz: Rondo. Presto

Erscheinungsformen des Rondos Merkmale
(a) Kettenrondo A – B – A – C – [ A – D – ] A alle Couplets sind verschieden; fünf- oder siebenteilige Form
(b) Bogenrondo A – B – A – C – A – B – A symmetrische Anlage: Couplet B kehrt wieder; C: stärkerer Kontrast zu A
(c) Sonatenrondo A – B – A – C – A – B' – A tonale Einrichtung von Couplet B': Anpassung an die Grundtonart; Couplet C vertritt eine Durchführung

Idealtypischer Bauplan eines Sonatenrondos (Hepokoski / Darcy: Type 4 Sonata)

A – Refrain B – erstes Couplet A – Refrain C – zweites Couplet A – Refrain B' – erstes Couplet A – Refrain (evtl. mit Coda)
I / i V / III I / i vi / VI oder I I / i I / i oder I I / i
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Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate B-Dur KV 281 (1774), III. Satz: Rondeau. Allegro
Quellen: IMSLP | YouTube


Adagio-Form

Formvariante Merkmale
Zweiteilige Adagioform auch: Kavatinenform, entspricht einer Sonatensatzform ohne Durchführung (Hepokoski / Darcy: Type 1 Sonata)
A – B – A – B' [ – A' ] erscheint typischerweise als langsamer Satz einer klassischen Sonate oder Symphonie
A (Hauptsatz) – modulierende Überleitung – B (Seitensatz in einer benachbarten Tonart) – Reprise A (weitgehend unverändert) – Überleitung – Reprise B (in der Grundtonart) – evtl. A' (coda-artige Wiederkehr von A am Schluss)
Dreiteilige Adagioform erweiterte dreiteilige Liedform mit verselbständigtem Mittelteil, in Nachfolge der Da-capo-Arie
A – B – A A (Hauptsatz) – B (Seitensatz bzw. Mittelteil) – Reprise von A (weitgehend unverändert)
A und B können in sich eine zweiteilige (a – b) oder dreiteilige Liedform (a – b – a) einschließen
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Ludwig van Beethoven: Klaviersonate c-Moll op. 10 Nr. 1 (1798), II. Satz: Adagio molto
Quellen: IMSLP | YouTube


Interpunktisches Formmodell

nach Heinrich Christoph Koch
Untergliederung eines größeren, in sich abgeschlossenen Formteils (Hauptperiode) analog zur sprachlichen Interpunktion
Musikalische Sinneinheiten sind durch öffnende oder schließende Kadenzen (Endigungsformeln) voneinander getrennt:

Kadenztypologie nach Koch
Grundabsatz = Kadenz zur Tonika zB: (a) authentischer GS [Punkt]             (b) imperfekter oder plagaler GS [Kolon]
Quintabsatz = Kadenz zur Dominante            zB: (c) plagaler HS [Semikolon] (d) tenorisierender HS [Komma]
Typische Dramaturgie eines ersten Formteils [ : ] [ ; ] oder [ , ] [ ; ] oder [ , ] [ . ]
mit Modulation zur Oberquint- oder Paralleltonart Grundabsatz (I / i) – Quintabsatz (I / i) – Quintabsatz (V / III) – Schlusssatz (V / III)

Hörbeispiel – Joseph Haydn: Klaviersonate C-Dur Hob. XVI:50 (1794), I. Satz: Allegro, Exposition


AUFGABEN

(1) Machen Sie sich mit den Merkmalen der Variationenform und Rondoform (auch in Abgrenzung zur Ritornellform) vertraut und hören Sie die Beispiele.
(2) Untersuchen und gliedern Sie die Variationen (II. Satz) aus dem Streichquartett C-Dur Hob. III:77 von Joseph Haydn und bestimmen Sie die variativen Prinzipien.
(3) Untersuchen und gliedern Sie das Rondeau (III. Satz) aus der Klaviersonate B-Dur KV 281 von Wolfgang Amadeus Mozart und erstellen Sie ein Formdiagramm.
(4) Untersuchen und gliedern Sie das Adagio molto (II. Satz) aus der Klaviersonate c-Moll op. 10 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven.