Formenlehre: Tutorial 4 – Barock: Ostinato-Formen, Variationsdenken, Satzmodelle

Ostinati, Bassmodelle, mehrstimmige Satzmodelle; Musikästhetik: Klangrede, rhetorische Form – PDF


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Ostinato-Formen

Chaconne (auch: Ciaccona, Chacona) Passacaglia (auch: Passacaille, Pasacalle)
Wahrscheinlich lateinamerikanischen Ursprungs Ursprung: spanischer Volkstanz (pasar la calle), englisch auch: ground
Variationen über ein 4- oder 8taktiges Bassmodell 8taktiges Thema, meist im Bass, evtl. auch in den Oberstimmen
Meist Dreiertakt, Dur oder Moll, eher bewegtes Tempo Dreier- oder Vierertakt, häufig in Moll, langsameres Tempo

Hörbeispiel – Juan Arañes: Chacona a la vida bona (1624)
Hörbeispiel – Stefano Landi: Passacaglia della vita (frühes 17. Jh.)

Bassmodelle

Modell Charakteristische Stufenfolge
La Folia (portugiesischen Ursprungs) zB: i – V – i – VII – III – VII – i – V
Romanesca (italienisch oder spanisch) zB: I – V – vi – III / iii
Passamezzo antico (italienisch) zB: i – VII – i – V
Passamezzo moderno (italienisch) zB: I – IV – I – V
Ruggiero (italienisch) und Varianten zB: I – V6 – #iv°6 – V – I6 – IV – V – I

Hörbeispiel – Luis de Narváez: Libro No. 6 para tañer Vihuela (1538), Diferencias sobre Guardame las vacas (Romanesca)
Hörbeispiel – Georg Friedrich Händel: Suites de pièces (1733), Chaconne in G HWV 435 (Ruggiero)
Hörbeispiel – Johann Sebastian Bach: Aria mit 30 Veränderungen »Goldberg-Variationen« BWV 988 (1741)

Gängige Bassmodelle in vierstimmiger Harmonisierung


Mehrstimmige Satzmodelle

(a) Skalenmodelle Charakteristische Stufenfolge Beschreibung
Oktavregel (Regola dell'ottava) zB: I – V6 – #iv°6 – V – V2 – I6 – vii°6 – I Harmonisierung einer diatonischen Skala (↓↑)
Linearer Parallelismus zB: I – V6 – vi – iii6 – IV – I6 Grundstellungen und Sextakkorde im Wechsel (↓↑)
Diatonischer Lamentobass zB: i – v6 – iv6 – V Harmonisierung eines phrygischen Tetrachords (↓)
Chromatischer Lamentobass zB: i – V6 – v6 – IV6 – iv6 – V Harmonisierung eines passus duriusculus (↓)
(b) Fundamentschrittmodelle Charakteristische Stufenfolge Beschreibung
Parallelismus (nach Dahlhaus) zB: I – V | vi – iii | IV – I Quintanstieg, terzweise sequenziert (↓↑)
Quintfallsequenz (Fonte) zB: I – IV | vii° – iii | vi – ii | V – I Quintfall, sekundweise abwärts sequenziert
Quintanstiegssequenz zB: I – V | ii – vi | iii Quintanstieg, sekundweise aufwärts sequenziert
Monte-Sequenz (nach Riepel) zB: V – I | vi – ii | vii° – iii | I – IV Quintfall, sekundweise aufwärts sequenziert
Fallende Quintanstiege zB: i – v | VII – iv | VI – III Quintanstieg, sekundweise abwärts sequenziert

Hörbeispiel – Claudio Monteverdi: Achtes Madrigalbuch (1638), Nr. 18: Lamento della ninfa
Hörbeispiel – Henry Purcell: Dido and Aeneas (1689), Lamento der Dido »When I am laid«
Hörbeispiel – Johann Pachelbel: Kanon und Gigue in D (1694)


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Jean-Baptiste Lully: Air des hautbois sur les Folies d'Espagne (1672)
Quellen: IMSLP | YouTube

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Henry Purcell: King Arthur (1691), Chacony in F
Quellen: IMSLP | YouTube

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Claudio Monteverdi: VIII. Madrigalbuch (1638), Nr. 18: Lamento della ninfa, Amor
Quellen: IMSLP | YouTube


Musikästhetik des Barock

Neue Entwicklungen im frühen 17. Jahrhundert
Verhältnis der Stimmen: nicht mehr nur polyphone Gleichberechtigung; neu entstehendes Prinzip: Solostimme + Begleitung
Variationsdenken: Erklungenes kann stetig weiterentwickelt werden, Wiederholung zulässig, Abkehr vom varietas-Gebot der Renaissance
Generalbass: Harmonisches Denken vom Bass her, akkordischer Satz als Grundlage der Komposition und Aufführungspraxis
Themenbau: melodisch-rhythmische Konturiertheit statt soggetto-Prinzip, Entwicklung aus einem motorischen Impuls
Akzentstufentakt: Taktstriche implizieren nun eine metrische Hierarchie bzw. ein Betonungsgefüge (Eins ist schwerste Zeit)

Musik als Klangrede
Verzierungstechnik: Variantenbildung durch Diminution und Ornamentierung (in der Regel rein performativ, nicht notiert)
Affektenlehre: Gestaltung der Musik analog zu Emotionen und Gemütsbewegungen (zB: Tonmalerei, Tonartensemantik)
Figurenlehre: Bezeichnung von expressiven Wendungen analog zu Figuren der Redekunst (Burmeister, Kircher, Bernhard etc.)
– Beispiele: anabasis, katabasis, circulatio, exclamatio, interrogatio, heterolepsis, noema, suspiratio, abruptio, aposiopesis

Formteil Rhetorische Disposition (nach Mattheson) Mögliche musikalische Entsprechungen bzw. Formfunktionen
(1) exordium Einleitung, Zweck und Absicht der Rede Vorstellung des Thema bzw. Hauptgedankens
(2) narratio Erzählung oder Bericht Fortführung und Ausarbeitung des Themas
(3) propositio Eigentlicher Vortrag, Kern des Anliegens                 Zuspitzung, Spannungsaufbau, Steigerung
(4) confirmatio Bekräftigung der Aussage Vorläufige Kadenzierung, Spannungsabfall
(5) confutatio Auflösung oder Widerlegung Verzögerung des Schlusses (Trugschluss, motivo di cadenza)
(6) peroratio Schlussteil (auch: conclusio) Auflösung, Epilog, Schlusskadenz

AUFGABEN

(1) Machen Sie sich mit den verschiedenen Bassmodellen und Satzmodellen vertraut und vergegenwärtigen Sie sich ggf. deren Sequenzcharakter. Hören Sie die Beispiele.
(2) Untersuchen und gliedern Sie die Komposition Air des hautbois sur les Folies d'Espagne von Jean-Baptiste Lully und identifizieren Sie das vorliegende Bassmodell.
(3) Untersuchen Sie die Chacony in F aus Henry Purcells Semi-Opera King Arthur und identifizieren Sie das vorliegende Bassmodell.
(4) Untersuchen Sie den Beginn des Lamento della ninfa aus dem VIII. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi und identifizieren Sie das vorliegende Bassmodell.