Franz Schubert, Winterreise op. 89, Der Wegweiser (Nr. 20) – Satztechnik und Bedeutung

Voraussetzungen

Satztechnische Grundlage dieses Tutorials ist die phrygische Wendung. In der folgenden Abbildung ist eine stufenweise abwärts sequenzierte phrygische Wendung zu sehen:

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Im Beispiel links ist im ersten Takt eine phrygische Wendung in e-Moll zu sehen (sie endet mit einem halbschlüssig wirkenden H-Dur-Akkord), die in den Takten darauf stufenweise abwärts sequenziert wird (d.h., ihr folgen jeweils eine phrygische Wendung in d- und in c-Moll). Die Verbindungen an den Taktstrichen wirken dabei wie ein ›totes Intervall‹ und stehen für das Hören nicht im Vordergrund.

Das Beispiel rechts zeigt die gleiche Harmonik (a | H g | A f | G), dieses Mal allerdings in Verbindung mit einer 7-6-Synkopenkette (Außenstimmen). Besonderheiten dieser Ausführung der 7-6-Synkpopenkette sind die parallel zum Bass verlaufenden großen Terzen (vgl. hierzu die gebräuchlichen Chromatisierungen im Lamentobass-Tutorial). Die Vorhaltsdissonanzen (Septimen) in dieser Modellvariante bewirken eine Umkehrung der metrischen Verhältnisse in Bezug auf das erste Beispiel.

Interpretation

Das folgende Beispiel zeigt, auf welche Weise dieses Verständnis dabei helfen kann, besondere Klangverbindungen in Musik des 19. Jahrhunderts satztechnisch zu verstehen. Der Wegweiser ist ein außergewöhnliches Lied aus dem Zyklus Die Winterreise von Franz Schubert. Schubert stellt in diesem Lied eine sehr komplexe Harmonik (vgl. hierzu das Wegweiser-Modell) in den Dienst einer Textaussage. Die erste Strophe des Liedes vertont Schubert in g-Moll, die zweite in der gleichnamigen Durtonart (G-Dur):

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Tenor: Jonas Kaufmann, Quelle: YouTube

Die Aufhellung nach G-Dur wählt Schubert für die Vertonung des folgenden Textes (2. Strophe):

Habe ja doch nichts begangen
Daß ich Menschen sollte scheun,
Welch ein törichtes Verlangen
Treibt mich in die Wüstenein?

Die erste Strophe vertont Schubert in g-Moll. Zur Standard-Modulation einer Komposition in Moll gehört die sich an die Ausgangstonart anschließende Modulation in die parallele Durtonart, also in einer g-Moll-Komposition eine Modulation nach B-Dur. Das H-Dur der zweiten Strophe könnte also als ein irreal verfärbtes (chromatisiertes) B-Dur verstanden werden, das die »Wüstenein«, in die sich der Protagonist getrieben fühlt, als Traumwelt ausweist, also als eine nicht zur traurigen Realität (Ausgangstonart g-Moll) gehörende Fiktion.

Satztechnisch erreicht Schubert von der Grundtonart der zweiten Strophe (G-Dur) das H-Dur über eine phrygische Wendung: a-Moll und H-Dur (das a-Moll erklingt zwar im Wert einer Sechzehntel, lässt sich jedoch durch die Vertrautheit der phrygischen Wendung gut hören). Mit dieser Wendung vertont Schubert semantisch passend die Frage: »Welch ein törichtes Verlangen treibt mich in die Wüstenein?« (Beim Berühren der Abbildung die erste rot markierte Stelle, vgl. zur Semantik des Modells auch auch das Tutorial: Die phrygische Wendung (Fragetopos)).

Darüber hinaus könnte es sein, dass Schubert die Harmoniefolge der sequenzierten phrygischen Wendung zur Rückmodulation gedient hat. Denn nach der Stabiliserung des H-Dur als Stufe ›vermollt‹ Schubert die H-Stufe und lässt ihr unvermittelt ein g-Moll folgen, dessen plötzliches Erscheinen wie ein Zerbrechen der H-Dur-Traumwelt wirkt und das den Protagonisten wieder in die g-Moll-Realität zurückwirft (d.h., er befindet sich wieder auf seinem tristen Weg und denkt: »Weiser stehen auf den Wegen, weisen auf die Städte zu...«). Interpretiert man den drittletzten Takt des Notenbeispiels bzw. den übermäßigen Quintsextakkord in g-Moll als Ausprägung eines A-Dur, wählt Schubert zur Vertonung der zweite Hälfte der zweiten Strophe genau jene Harmonien, die zur sequenzierten phrygischen Wendung gehören ( a → H-Dur | g-Moll → A-Dur). Das nachstehende Beispiel veranschaulicht die Beziehung zwischen Schuberts Komposition und dem Modell der sequenzierten phrygischen Wendung:

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Tenor: Jonas Kaufmann, Quelle: YouTube