Formenlehre: Einheit 3 – Renaissance: Geistliche und weltliche Vokalpolyphonie

Messe, Motette, Madrigal, Chanson; Imitationssatz, cantus-firmus-Satz – PDF


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Gattungen der Vorrenaissance

Epochen und Stilbegriffe

Charakteristische Gattungen

Notre-Dame-Schule (ca. 1180–1250)

Organum, Conductus, Discantus, Klausel; Tropus und Sequenz (frühe Mehrstimmigkeit)

Ars antiqua (ca. 1250–1330)

Motette: häufig mehrtextig (verschiedene Sprachen in den Stimmen tenor, motetus und triplum)

Ars nova (ca. 1330–1380)

Burgundische Chanson: 3stimmiger Kantilenensatz; Gattungen: Ballade, Rondeau, Virelai

Isorhythmische Motette: Periodenbildung in Melodie (color) und Rhythmus (talea)

Hauptgattungen der Vokalmusik der Renaissance

Dominierender Stil in notierter Musik: Vokalpolyphonie (Eigenständigkeit der Stimmen)
Grundsatz der varietas (Johannes Tinctoris): melodische und rhythmische Vielfalt, Musik befindet sich im ständigen Fluss

Messe – zyklische Vertonung der fünf Teile des Ordinarum missae
Requiem – Totenmesse, enthält zusätzlich zum Proprium missae die Sequenz Dies irae

Ordinarium missae

Proprium missae

    

Melodische Quellen für Messkompositionen (als cantus firmi oder Kanonthemen)

 

Introitus

(a) über einen Hymnus oder gregorianischen Choral, zB: Josquin, Missa Pange lingua
(b) über Solmisationssilben oder ein soggetto cavato, zB: Josquin, Missa La sol fa re mi
(c) über einen weltlichen Lied-Tenor, zB: Josquin, Missa L'homme armé
(d) über eine Motette oder Chanson (Parodiemesse), zB: Josquin, Missa Fortuna desperata

I. Kyrie

 

II. Gloria

 
 

Graduale

 

Alleluia | Tractus

III. Credo

 

IV. Sanctus – Benedictus

 
 

Offertorium

V. Agnus Dei

 
 

Communio

Motette – Vertonung anderer geistlicher bzw. liturgischer Texte: Bibelpassagen, Psalmen, Gebete (Pater noster, Ave Maria)
Satztechniken von Messsätzen und Motetten sind zu ähnlichen Entstehungszeiten stark verwandt; typische Fakturen:

  • Tenormotette: konstante, mottoartige Tonfolge im Tenor (evtl. transponiert, augmentiert, Kanon mit einer anderen Stimme)
  • Durchimitierte Motette: Reihungsform bzw. zeilenweise Anwendung des soggetto-Prinzips (siehe unten)

Chanson – Mehrstimmiger polyphoner Satz eines Volkslieds oder eines volkstümlichen Texts

  • Französische Chanson (15. Jh.): Liebeslieder oder Klagelieder, gelegentlich burlesk-derbe Texte, auch Lautmalereien
  • Tenorlied und Diskantlied (15. und 16. Jh.): deutsche Gegenstücke zur Chanson, cantus firmus im Tenor oder Sopran

Madrigal – Weltliche Schwestergattung der Motette, hoher künstlerischer Anspruch, Vertonung eines literarischen Texts
Komponisten: Lasso, Marenzio, Gesualdo, Monteverdi, Schütz; bevorzugte italienische Textdichter: Dante, Petrarca, Tasso
Imitatorische Polyphonie wechselt sich ab mit homophonen Passagen, in denen Textverständlichkeit im Vordergrund steht
Madrigalismen: affektgebundene tonmalerische Wendungen, häufig mit kühner Harmonik und Dissonanzen

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Orlando di Lasso: Missa venatorum (Missa Jäger), auch genannt Missa octavi toni (1577)
I. Satz: Kyrie | IV. Satz: Sanctus | V. Satz: Agnus Dei
Quellen: IMSLP | YouTube

  1. Josquin Desprez

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  2. Josquin Desprez

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  3. Palestrina

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  4. Monteverdi

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  5. Monteverdi

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  6. Casulana

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  7. Casulana

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Josquin Desprez: Chanson Mille regretz (~1520)
Quellen: IMSLP | YouTube

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Giovanni Pierluigi da Palestrina: Canticum canticorum (1584), Nr. 29: Veni, dilecte mi
Quellen: IMSLP | YouTube

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Claudio Monteverdi: II. Madrigalbuch (1590), Nr. 14: Ecco mormorar l'onde
Quellen: IMSLP | YouTube

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Maddalena Casulana: II. Madrigalbuch (1570), Morir non può il mio cuore
Quellen: CPDL | YouTube

Kontrapunktische Satzweisen: (1) Imitationssatz

Kanon (lat. fuga): ein Thema wird mit sich selbst kombiniert, wird also von einer oder mehreren anderen Stimme(n) imitiert
Parameter der Imitation: (a) Einsatzabstand: Angabe in Notenwerten oder Takten, (b) Einsatzintervall: häufig 4↑↓, 5↑↓, 8↑↓
Proportionskanon bzw. Mensurkanon: Verschiebung durch abweichende Dauer gleicher Notenwerte in verschiedenen Taktarten

Reihungsform der Renaissance
Bevorzugte Formanlage für Messsätze und Motetten; auch weite Teile von Chansons und Madrigalen sind so gestaltet
Durchimitation bzw. motettischer Satz: jeder Textzeile entspricht ein soggetto, das abschnittsweise durch die Stimmen läuft
soggetto = vokaler Thementyp der Renaissance, lineare melodische Kontur ist geprägt durch wortgezeugte Deklamation

Kontrapunktische Satzweisen: (2) cantus-firmus-Satz

Spezies-Kontrapunkt (nach Johann Joseph Fux)
Zum cantus firmus der Hauptstimme (vox principalis, meist Tenor oder Diskant) treten Gegenstimmen hinzu (voces alterae)
Klassifikation der Spezies bzw. Gattungen nach dem rhythmischen Verhältnis zwischen den Stimmen:
(1) contrapunctus simplex = Ganze gegen Ganze, (2) Ganze gegen Halbe, (3) Ganze gegen Viertel, (4) synkopische Ganze, (5) contrapunctus floridus

Bewegungsarten von Stimmpaaren

Merkmale

(a) Parallelbewegung

Stimmen bewegen sich in die gleiche Richtung, Abstand zwischen den Stimmen bleibt gleich

(b) Gegenbewegung

Stimmen nähern oder entfernen sich, Abstand zwischen den Stimmen verkleinert oder vergrößert sich

(c) Seitenbewegung

eine Stimme bewegt sich aufwärts oder abwärts, die andere hält den Ton

Aufgaben zur Einheit 3
  1. Lesen Sie das Kapitel »Bewegung« aus Clemens Kühns Formenlehre der Musik, Kassel 2007, S. 26–41.
  2. Untersuchen Sie die Sätze Kyrie, Sanctus und Agnus Dei aus der Missa Jäger von Orlando di Lasso
    im Hinblick auf Satzweisen, Abschnittsbildungen und Imitationsstruktur.
  3. Untersuchen und gliedern Sie den Beginn der Motette Veni, dilecte mi aus dem IV. Motettenbuch von Giovanni Pierluigi da Palestrina.
  4. Untersuchen Sie die Chanson Mille regretz von Josquin Desprez im Hinblick auf Kadenzen, Abschnittsbildungen und Imitation.
  5. Untersuchen und gliedern Sie den Beginn des Madrigals Ecco mormorar l'onde aus dem II. Madrigalbuch von Claudio Monteverdi
    oder das Madrigal Morir non può il mio cuore aus dem II. Madrigalbuch von Maddalena Casulana.