Diese Stunde ist Teil einer Unterrichtssequenz zum Thema Graphische Notation in der Neuen Musik.

4. Stunde: Vielfalt, Verschiedenheit

Ziel: Erfassen unterschiedlicher Arten von graphischer Notation

Die Kreisdiagramme zeigen keine 60-Minuten-Stunden, sondern eine ungefähre prozentuale Zeiteinteilung für eine normale Unterrichtsstunde mit 45 Minuten. Da Klassen immer unterschiedlich auf Unterrichtsinhalte und -gegenstände sowie Arbeitsaufträge und Interaktionen reagieren, soll dieses Zeitmanagement zur Orientierung dienen. Kurze Phasen sollen ca. fünf Minuten nicht überdauern, längere Phasen können zwischen 10 und 20 Minuten liegen.

Als Unterrichtseinstieg sehen die Schülerinnen und Schüler als Tafelbild zwei Brillen gezeichnet, die verschiedene Sichtweisen auf die Notationen werfen sollen:

Tafelbild 4a

Außerdem wird die bereits bekannte graphische Notation von Aquarium der traditionellen gegenübergestellt.
Da bei graphischen Notationen unzählige Unterscheidungskriterien beobachtet werden können, kann es sinnvoller sein, den Schülerinnen und Schülern Kategorien, auf die sie achten sollen, vorzugeben. Stellt dies anfangs zwar einen eher geschlossenen Aufgabentyp dar, so liegt der Gewinn doch in einer Vielfalt an möglichen Antworten und detaillierteren Perspektiven auf den Gegenstand. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich darüber Gedanken machen, wie die beiden Transkriptionen aus den verschiedenen Blickwinkeln wahrgenommen werden können und was sie jeweils leisten können.
Dazu erklingt nochmals die Musik

Vergleich der graphische Notation von Aquarium mit der der traditionellen

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Aquarium aus Camille Saint-Saëns Le carnaval des animaux

Die Ergebnisse werden an der Tafel nach und nach festgehalten, so dass sich im Laufe der Stunde ein vollständiges Tafelbild ergibt. Einerseits werden so der Zeitpunkt der Entstehung sowie die Funktion von (graphischen) Notationen in den Blick genommen. Die Schülerinnen und Schüler sollen möglichst selbstständig Begriffe und Definitionen für diese Unterscheidungen finden. Die Lehrkraft lenkt dabei durch geeignete Impulse im Unterrichtsgespräch die Aufmerksamkeit der Jugendlichen auf Zusammenhänge oder Probleme:

  • Vergleichen Sie mögliche Aufführungen der beiden Partituren von Aquarium: Was könnte sich bei Aufführungen, denen die traditionelle Partitur zugrunde liegt, unterscheiden? Was könnte sich bei Aufführungen, denen die graphische Partitur zugrundeliegt unterscheiden?
  • Erinnern Sie sich an die Komposition Artikulation und die damit in Zusammenhang stehende Hörpartitur. Was besagt der Begriff »Hörpartitur«?
  • Warum gibt es überhaupt Notationen von Musik?
  • Was muss ein Komponist machen, damit bei einer graphischen Partitur nicht alles möglich wird?
  • Warum greift insbesondere Neue Musik auf graphische Partituren zurück? Bzw. welche Schwierigkeiten könnte es geben, Neue Musik traditionell zu notieren? Die Antworten und Denkrichtungen der Jugendlichen sind ausschlaggebend für das Tafelbild. Ein mögliches Tafelbild könnte am Ende so aussehen:

Tafelbild 4b

Mit Kenntnis über diese Perspektiven werden die Schülerinnen und Schüler nun aufgefordert, verschiedene graphische Partituren zu untersuchen. Insbesondere die zweite Perspektive – ›exakt‹ wiederholbar/›freie‹ Improvisation – spielt hierbei eine große Rolle. Die Jugendlichen sollen sich zwei der sechs auf den Arbeitsblättern abgebildeten, graphischen Partituren auszusuchen und in Partnerarbeit hinsichtlich der folgenden Punkten gemeinsam innerhalb der nächsten Minuten erarbeiten:

(Da bisher in der Stundensequenz wenig unterschiedliche Partiturbilder zu sehen waren, wird in diesen sechs Beispielen ansatzweise versucht einen Überblick über die Vielfalt zu geben. Das Dilemma, einerseits immer am Beispiel »verhaftet« zu bleiben und dennoch einen Überblick geben zu wollen, wird hier so aufgelöst, indem die Schülerinnen und Schüler selbst aus einer gewissen Menge auswählen können. Somit fällt eine Vielfalt auf, ohne zu einer rein quantitativen Betrachtung zu werden. Sollte eines der Beispiele von keinem aus der Klasse gewählt werden, so kann dies mit der ganzen Klasse besprochen werden oder auch aus zeitlichen Gründen weggelassen werden. Im Vordergrund steht die qualitative Betrachtung.)

  • Welche Vorgaben zu der graphischen Partitur sind zu beachten? Tragen Sie die Legenden oder übergeordnete Strukturen zusammen.
  • Inwieweit reglementieren diese etwaigen Vorgaben den Interpretationsspielraum? Formulieren Sie zwei Beispiele, wie sich die Musik unterscheiden könnte, wenn zwei unterschiedliche Ensembles die gleiche Partitur spielen würden.
  • Welche Besonderheiten oder ›Mehrdeutigkeiten‹ fallen Ihnen an der Partitur auf?

Während dieser Arbeitsphase, zeichnet die Lehrkraft eine Linie an die Tafel, deren Enden die Pole »präzise Partitur/exakte Wiedergabe« und »musikalische Graphik/Improvisation« markieren. Nach vorgegebenem Zeitintervall, tragen die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse vor, ergänzen sie oder diskutieren ihre Ansichten. Ziel ist sowohl die Partituren kennenzulernen, die in der Partnerarbeit nicht besprochen worden sind, als auch alle Partituren an der Tafel zwischen den beiden Polen anzuordnen. Eine Erkenntnis aus dieser Zuordnung könnte sein, dass graphische Partituren eine ›genaue‹ Wiederholbarkeit der Musik unwahrscheinlicher machen, dafür aber andere Qualitäten aufweisen.
Ein mögliches Tafelbild könnte am Ende so aussehen:

Tafelbild 5

Nun sollen sich die Schülerinnen und Schüler nochmals den graphischen Partituren zuwenden und an einem Hörversuch teilnehmen, bei dem ihnen Interpretationsbeispiele vorgespielt werden:
Versuchen Sie die Musik den Partituren zuzuordnen.
Bei diesem Versuch geht es darum, dass die Schülerinnen und Schüler sich auf ein differenziertes Hören einlassen, bei dem sie auf musikalische Strukturen achten, und die Musik soweit wie möglich mit den Partituren abgleichen.

Da bei einem Werk (Azione a due) keine Aufnahme, bei einem anderen Werk (Treatise) hingegen drei Interpretationen vorhanden sind, können die Lernenden gegen Ende des Hörversuchs die Hörbeispiele nicht über das offensichtliche Ausschlusskriterium »das kann es nicht sein, da es bereits vorgekommen ist« den Partituren zuordnen. Auch wird eine Aufnahme von dem nichtabgebildeten Werk Mysteries of macabre von Ligeti bereitgestellt, um eine Aufnahme mit einer führenden Frauenstimme (ähnlich Berios Circles) zu haben. Über diese Gegebenheiten sollte die Lehrkraft die Schülerinnen und Schüler anfangs informieren.

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Hörbeispiel - 1

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Hörbeispiel - 2

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Hörbeispiel - 3

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Hör- und Videobeispiel - 4

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Hörbeispiel - 5

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Hörbeispiel - 6
ACHTUNG: sehr laut!

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Hörbeispiel - 7

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Hörbeispiel - 8

Nach dem Vorspiel der Beispiele ist ein Meinungsaustausch unter den Schülerinnen und Schüler ohne großen Anstoß der Lehrkraft wahrscheinlich und sollte auch stattfinden dürfen. Inwieweit die visuelle Zuordnung der Werke (Tafelbild 5) auch bei der auditiven Zuordnung wiederkehrt, bzw. ob überhaupt ein Werk »richtig« zugeordnet werden kann, ist hier eine spannende Frage. Die bereits geförderte ästhetisch-rationale Argumentationskompetenz dürfte hier gut greifen, da die Fragestellung kein individuelles Geschmacksurteil, sondern einen Vergleich fokussiert.

Gegen Ende der Stunde zeichnet die Lehrkraft wieder das Tafelbild 1 an die Tafel und fordert die Schülerinnen und Schüler auf, dieses so zu verändern, dass einmal eine graphische Partitur entsteht, die eine möglichst exakte Wiederholung der Musik wahrscheinlich macht, ein andermal eine möglichst freie Improvisation anbietet und zuletzt eine dritte Variante zeigt, die dazwischen liegt. Diese Übung dient dazu, nicht nur graphische Elemente auf ihren Interpretationsspielraum auszulegen, sondern solche auch selbst anzuwenden.

Tafelbild 1