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Formenlehre: Einheit 11 – Romantik: Miniaturen und Zyklen, Kammermusik

Klavierminiaturen, stilisierte Tänze, poetische Charakterstücke, Klavierzyklen – PDF


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Klavierminiaturen

Gattungshistorische Ausgangspunkte: programmatische Suitensätze der französischen Clavecinisten; didaktische ›Handstücke‹ der Wiener Klassik
Im frühen 19. Jahrhundert werden Miniaturen erstmals als autonome Opera veröffentlicht (Beethoven: Bagatellen; Weber und Schubert: Tänze)
Tendenz zur Verselbständigung von Klavierminiaturen ab den 1830er Jahren: stehen gleichberechtigt neben Sonatenwerken

Formen von Klavierminiaturen
Liedformen dominieren (zweiteilige Liedform: A – B, dreiteilige Liedform mit Reprise: A – B – A')
Weiterer Formtypus: Erweiterung einer einfachen zu einer zusammengesetzten Liedform (A – B – A – C – A: wie ein Menuett mit zwei Trios)
Gelegentlich erscheinen Variationenfolgen, rondoartige Formen oder mehrteilige Strukturen mit Sektionen in verschiedenen Tempi

Typen von Klavierminiaturen

Merkmale

Prélude, Preludio, Präludium

losgelöst von der Fuge, flexibler (geradezu anonymisierter) Charakter, oft aphoristische Kürze

Étude, Estudio, Etüde

Übungsstück bzw. Studie oder Konzertetüde, behandelt oft ein spezifisches technisches Problem

Caprice, Capriccio

bewegtes, technisch anspruchsvolles Stück mit scherzhaftem oder eigenwilligem Charakter

Nocturne, Notturno, Nachtstück

lyrisches, meist gesangliches Charakterstück; als Klavierminiatur begründet von John Field

Ballade, Ballada

narrativ-erzählendes, oft mehrteiliges Charakterstück, ggf. von einer literarischen Vorlage inspiriert

Intermezzo

verselbständigtes ›Zwischenspiel‹ mit flexiblem Charakter und Tempo; auch als Sonatensatz

Impromptu

im Charakter einer ausnotierten Improvisation, miniaturartig oder auch größer dimensioniert

Lied ohne Worte

gesangliches Klavierstück in schlichter Form, begründet durch Fanny und Felix Mendelssohn

Rhapsodie

improvisatorischer Gestus, häufig volkstümliches Kolorit (ungarisch, böhmisch, spanisch etc.)

weitere Typen:

Bagatelle, Romanze, Albumblatt, Moment musical, Elegie, Poème, Märchen, Novelle, Skizze etc.

Verselbständigung von Miniaturen zu größeren, separat veröffentlichten Einzelsätzen ist möglich: Ballade, Scherzo, Barcarolle, Humoreske etc.
Im frühen 20. Jahrhundert neigen Klavierminiaturen zur aphoristischen Kürze, häufig neutral betitelt als ›Klavierstück‹ (Schönberg, Webern)

  • Hörbeispiel – Franz Schubert: Moments musicaux D 790 (1828), Nr. 6 As-Dur: Allegretto
  • Hörbeispiel – Clara Schumann: Scherzo für Klavier Nr. 2 c-Moll, op. 14 (1841)
  • Hörbeispiel – Louise Farrenc: Mélodie pour le pianoforte As-Dur (1847)
  • Hörbeispiel – Fanny Hensel: Klaviertrio d-Moll op. 11 (1847), III. Satz: Lied

Stilisierte Tanzgattungen (meist nicht mehr als Tanzstücke konzipiert; finden gelegentlich Eingang in Sonaten oder Symphonien)

Valse, Walzer

  3 / 4  

deutscher oder alpenländischer Ursprung, flexibles Tempo; Gegenstück zum höfischen Menuett

Mazurka

  3 / 4  

polnischer Ursprung (volkstümlich), mäßiges oder schnelles Tempo
typischer Rhythmus: punktierte Achtel, Sechzehntel, Halbe

Alla polacca, Polonaise

  3 / 4  

polnischer Ursprung (vom französischen Adel adaptiert), mäßiges Tempo
typischer Rhythmus: Achtel, zwei Sechzehntel

Polka

  2 / 4  

böhmischer Ursprung, schnelles Tempo, ausgelassener Charakter
typischer Rhythmus: zwei Sechzehntel, Achtel

Alla marcia, Marsch

  4 / 4  

militärischer Hintergrund; häufige Punktierungen, stark betonte gerade Zählzeiten

Marcia funebre, Trauermarsch

  4 / 4  

marschartiger Rhythmus in langsamem Tempo, düsterer oder klagender Charakter, stets in Moll

andere volkstümliche Tänze:

häufig in Suiten oder losen Sammlungen (ungarisch, rumänisch, slawisch, spanisch etc.)

  • Hörbeispiel – Carl Maria von Weber: Aufforderung zum Tanze für Klavier op. 65 (1819) – Konzertwalzer in Rondoform
  • Hörbeispiel – Johannes Brahms: Streichquartett a-Moll op. 51 Nr. 2 (1873), III. Satz: Quasi Minuetto – stilisiertes Menuett

Poetisierung von Charakterstücken
(a) mit deskriptiven Untertiteln (Mendelssohn: Lieder ohne Worte, Schumann: Phantasiestücke, Grieg: Lyrische Stücke)
(b) mit literarischem Hintergrund (Schumann: Papillons, Kreisleriana; Liszt: Liebesträume; Ravel: Gaspard de la nuit)
(c) hybride Erscheinungsformen zwischen absoluter Musik und Programmmusik (Schumann: Kinderszenen, Debussy: Préludes)

Phantasie und Sonate
Einsätzige Phantasien, etwa bei C. Ph. E. Bach, Mozart und Beethoven, können sich der Sonate annähern (Beethoven: Sonata quasi una fantasia)
Verbindung beider Gattungen: mehrsätzige Phantasien bzw. Phantasie-Sonaten (etwa Schubert: Wanderer-Phantasie, Mendelssohn, Schumann)
Scheinbar gegensätzliche Konzepte (freie Improvisation vs. strenger formaler Idealtypus) durchdringen sich gegenseitig

  • Hörbeispiel – Franz Liszt: Liebestraum für Klavier Nr. 3 As-Dur (1850)
  • Hörbeispiel – Pjotr Iljitsch Tschaikowskij: Kinderalbum op. 39 (1878), Nr. 1: Morgengebet
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Felix Mendelssohn Bartholdy: Sechs Lieder ohne Worte op. 30 (1834), Nr. 3 E-Dur: Adagio non troppo
Quellen: IMSLP | YouTube

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Fanny Hensel: Vier Lieder für Klavier op. 8 (1846), Nr. 2 a-Moll: Andante con espressione
Quellen: IMSLP | YouTube

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Frédéric Chopin: Drei Nocturnes op. 15, Nr. 2 Fis-Dur: Larghetto (1832)
Quellen: IMSLP | YouTube

Klavierzyklen

Ergebnis der Tendenz, gleichartige Miniaturen (Präludien, Etüden, Capricen) in Serien, Heften oder Sammlungen zusammenzufassen
Zyklisches Prinzip: keine bloße Reihung, sondern Zusammenhang über Gattungstyp, Charakter, Satzweise, Tonart oder Diastematik
Dadurch entsteht eine konkrete Dramaturgie der Abfolge, die Änderungen der Reihenfolge der Stücke oder Auswahlaufführungen ausschließt

Omnitonalität
Kompendienhaftes Durchlaufen aller vierundzwanzig Dur- und Moll-Tonarten in der Nachfolge von Bachs Wohltemperiertem Clavier:
meist Präludien (so bei Hummel, Chopin, Alkan, Busoni, Skrjabin, Rachmaninow etc.), aber auch Etüden oder andere Klavierminiaturen

Programmatische Zyklen
Kopplung einer Serie von Miniaturen in einem narrativen Kontext, der den zyklischen Rahmen sowie Satzüberschriften liefert
Beispiele – Schumann: Carnaval, Kinderszenen, Waldszenen; Liszt: Années de pèlerinage; Mussorgskij: Bilder einer Ausstellung

1
3
4
10
11
19
21
1

Préambule

3

Arlequin

4

Valse noble

10

A. S. C. H. – S. C. H. A. (Lettres dansantes)

11

Chiarina

19

Promenade

21

Marche des Davidsbündler contre les Philistins

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Robert Schumann: Carnaval. Scènes mignonnes sur quatre notes für Klavier op. 9 (1835)
Nr. 1 | Nr. 3 | Nr. 4 | Nr. 10 | Nr. 11 | Nr. 19 | Nr. 21 | Quellen: IMSLP | YouTube

Aufgaben zur Einheit 11
  1. Machen Sie sich mit den Typen von Klavierminiaturen, stilisierten Tänzen und Zyklen vertraut und hören Sie die Beispiele.
  2. Untersuchen und gliedern Sie das Lied ohne Worte E-Dur op. 30 Nr. 3 von Felix Mendelssohn und benennen Sie dessen Formmodell.
  3. Untersuchen und gliedern Sie das Lied ohne Worte a-Moll op. 8 Nr. 2 von Fanny Hensel und identifizieren Sie wiederkehrende Themen.
  4. Untersuchen und gliedern Sie das Nocturne Fis-Dur op. 15 Nr. 2 von Frédéric Chopin und benennen Sie dessen Formmodell.
  5. Untersuchen Sie die Transformationen des Motivs as-c-h in Robert Schumanns Carnaval op. 9 und benennen Sie die Gattungstypen.