Formenlehre: Einheit 8 – Wiener Klassik: Themenbau, Liedformen, Menuett

Periode und Satz; zweiteilige und dreiteilige Liedform, Menuett und Scherzo – PDF


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Idealtypen der musikalischen Syntax

Grundelemente des Themenbaus
Motiv (motive) = kleinste musikalische Sinneinheit in einheitlichem Gestus oder Affekt, gebaut aus mindestens zwei Tönen
Phrase (phrase bzw. idea) = auf einen Atem sing- oder spielbare musikalische Sinneinheit, kann mehrere Motive enthalten
Thema (theme bzw. subject) = abgegrenzte musikalische Gestalt mit kontrastierenden Phrasen und innerer Dramaturgie
Gang (nach Marx) = figurative, athematische, locker gefügte Passage; Bindeglied zwischen fester gefügten Abschnitten

  • Hörbeispiel – Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate c-Moll KV 457 (1784), Hauptthema aus dem I. Satz: Molto allegro
  • Hörbeispiel – Wolfgang Amadeus Mozart: Klaviersonate D-Dur KV 576 (1789), Hauptthema aus dem I. Satz: Allegro
  • Hörbeispiel – Ludwig van Beethoven: Klaviersonate f-Moll op. 2 Nr. 1 (1795), Hauptthema aus dem I. Satz: Allegro
  • Hörbeispiel – Ludwig van Beethoven: Klaviersonate C-Dur op. 2 Nr. 3 (1795), Hauptthema aus dem I. Satz: Allegro con brio

Periode (period) – lyrisches Prinzip des Themenbaus

Satz nach Erwin Ratz (sentence) – prosaisches Prinzip

Idealtypische Syntax: 2 + 2 + 2 + 2 Takte

Idealtypische Syntax: 2 + 2 + 4 Takte

Vordersatz (antecedent): endet typischerweise mit Halbschluss
– Phrase (basic idea) und Gegenphrase (contrasting idea)

Vordersatz (presentation): Halbschluss oder keine Schlusswendung
– Phrase und korrespondierende Phrasenvariante oder Sequenz

Nachsatz (consequent): endet typischerweise mit Ganzschluss
– Phrase und Gegenphrase oder Schlussphrase (cadential)
– Analogie zum Vordersatz: Statik, Geschlossenheit

Nachsatz (continuation): entspricht einem Entwicklungsteil
– Fortspinnung, Segmentierung oder Sequenzierung, evtl. Kadenz
– Kontrast zum Vordersatz: Dynamik, Vorwärtsgerichtetheit

Periode und Satz in deutscher und angloamerikanischer Terminologie
Autor: Wendelin Bitzan, basierend auf folgender Quelle:
Open Music Theory, Period | Sentence, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Mischformen von Periode und Satz (nach William Caplin)
(a) hybrid theme: periodenartiger Vordersatz mit Entwicklungsteil oder satzartiger Vordersatz mit periodenartigem Nachsatz
(b) compound theme: Verschachtelung einer 16taktigen Periode mit 8taktigen satzartigen Halbsätzen

Sonderformen von Periode und Satz
(1) Modulierendes Thema: Nachsatz einer Periode oder eines Satzes führt in eine Kontrasttonart (meist I → V oder i → v / III)
(2) Asymmetrisches Thema: Nachsatz einer Periode oder eines Satzes wird verlängert (gedehnt) oder verkürzt (gestaucht)

Aspekte der Asymmetriebildung
innere Erweiterung: Verlängerung durch Einschub eines oder mehrerer Takte innerhalb der Syntax, also vor der Kadenz
äußere Erweiterung: Verlängerung durch Anhang nach einem Einschnitt oder Trugschluss, anschließend stabile Kadenz
Phrasenverschränkung bzw. Elision (Tacterstickung nach Koch): ein Takt gehört zugleich zu zwei aufeinanderfolgenden syntaktischen Teilen

  • Hörbeispiel – Wolfgang Amadeus Mozart: Klarinettenkonzert A-Dur KV 622 (1791), Hauptthema aus dem II. Satz: Adagio
  • Hörbeispiel –Ludwig van Beethoven: Klavierkonzert c-Moll op. 37 (1800), Hauptthema aus dem III. Satz: Rondo. Allegro
  • Hörbeispiel – Joseph Haydn: Klaviersonate D-Dur Hob. XVI:15 (vor 1766), Hauptthema aus dem III. Satz: Presto
  • Hörbeispiel – Maria Theresia Paradis: Zwölf Lieder auf ihrer Reise in Musik gesetzt (1786), Nr. 8: Morgenlied eines armen Mannes

Instrumentale Liedformen

Wesentliche Formtypen der Vokalmusik werden auf die Analyse von Instrumentalmusik übertragen (zuerst durch Adolf Bernhard Marx)
Gängige Gestaltungsweisen von Volksliedern und Kirchenliedern nun auch auch in Charakterstücken, Tanzsätzen, Formteilen längerer Sätze
Relevante formbildende Prinzipien bzw. Formfunktionen: Wiederholung, Variantenbildung, Kontrast, Wiederkehr (Reprise)

Zweiteilige Liedform (small binary)

Dreiteilige Liedform (small ternary)

||:   A   :||:   A'   :||   oder   ||:   A   :||:   B   :||

||:   A   :||:   B   |   A'   :||

Parataktische Kopplung zweier Formteile
etwa in volkstümlichen Tänzen (Ländler, Deutscher, Walzer)

Hypotaktische Kopplung mit Reprise des ersten Formteils
etwa in Rondo- oder Variationsthemen oder in langsamen Sätzen

Syntax: häufig Verkettung von zwei Perioden oder Sätzen
– Erster Teil: kann (muss nicht) in eine Kontrasttonart führen
– Zweiter Teil: Variante (A') oder Kontrast (B) zum ersten Teil

Teil A moduliert zu einer Kontrasttonart, Teil A' bleibt tonal stabil
– Proportionsmodell 1: A entspricht der Länge von B + A'
– Proportionsmodell 2: A und B und A' sind jeweils gleich lang

Menuett – höfischer Tanz als Relikt aus der barocken Suite, findet Eingang in Sonaten und Symphonien und etabliert sich dort als dritter Satz
Scherzo – beschwingter Satz in beschleunigtem 3/4-Takt, in ganzen Takten zu dirigieren, Tanzcharakter nicht mehr evident

  • Hörbeispiel – Joseph Haydn: Symphonie Nr. 7 C-Dur »Der Mittag« Hob. I:7 (1761), III. Satz: Menuetto
  • Hörbeispiel – Carl Philipp Emanuel Bach: Menuett C-Dur Wq. 116 Nr. 15 (1762)
  • Hörbeispiel – Clara Schumann: Pièces fugitives op. 15 (1845), Nr. 4: Scherzo G-Dur

Menuettform: Verschachtelung zweier dreiteiliger Liedformen

Gliederung

A – Hauptteil: Menuett bzw. Scherzo (b und a' oft länger als a)

||:   a1   :||:   b1   |   a1'   :||

B – Trio: zurückhaltender im Ausdruck, verkleinerte Besetzung

||:   a2   :||:   b2   |   a2'   :||

A' – Menuett bzw. Scherzo da capo, ohne Wiederholungen

||   a1   ||   b1   |   a1'   ||

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Wolfgang Amadeus Mozart: Zwölf Duos (Kegelduette) für zwei Hörner KV 487 (1786)
Nr. 5 – Timecode 00:00 | Nr. 9 – Timecode 07:24
Quellen: Digitale Mozart-Edition | YouTube

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Maria Agata Szymanowska: Sechs Menuette für Klavier (1819), Nr. 1 a-Moll
Quellen: IMSLP | YouTube

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Joseph Haydn: Klaviersonate h-Moll Hob. XVI:32 (1776), II. Satz: Menuet und Trio
Quellen: IMSLP | YouTube

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Ludwig van Beethoven: Klaviersonate A-Dur op. 2 Nr. 3 (1795), III. Satz: Scherzo. Allegro
Quellen: IMSLP | YouTube

Motivisch-thematische Arbeit

Prinzip: Ableitung des zeitlich Folgenden aus vorhergehendem Material; Späteres knüpft an Früheres an und entwickelt es weiter
Einheitsstiftende Parameter: Diastematik (Tonhöhenverlauf), Rhythmik, evtl. auch Dynamik, Artikulation, Tempo

Schlagwörter und Termini zur Beschreibung motivischer Zusammenhänge in einem Einzelsatz oder Zyklus

  • Motivisch-thematische Einheit
  • Motivischer Kern bzw. Keimzelle (Motto, Zitat, idée fixe)
  • Motiv- oder Thementransformation
  • Kontrastierende Ableitung (nach Arnold Schmitz)
  • Entwickelnde Variation (nach Arnold Schönberg)
  • thematicism (nach Rudolf Réti)
Aufgaben zur Einheit 8
  1. Lesen Sie das Kapitel »Das Ereignis der Reprise« aus Clemens Kühns Formenlehre der Musik, Kassel 2007, S. 145–165.
  2. Machen Sie sich mit den Idealtypen des klassischen Themenbaus und ihren Varianten vertraut und hören Sie die Beispiele.
  3. Untersuchen und gliedern Sie die Kegelduette KV 487 Nr. 5 und Nr. 9 von Wolfgang Amadeus Mozart als instrumentale Liedformen.
  4. Untersuchen und gliedern Sie das erste Menuett in a-Moll aus den Sechs Menuetten von Maria Agata Szymanowska.
  5. Untersuchen und gliedern Sie das Menuett und Trio aus Joseph Haydns Klaviersonate h-Moll Hob. XVI:32.
  6. Untersuchen und gliedern Sie das Scherzo aus Ludwig van Beethovens Klaviersonate A-Dur op. 2 Nr. 2.