Die phrygische Wendung (Fragetopos)

Der Name ›phrygische Wendung‹ verweist auf die Ganz- und Halbtonverhältnisse des phrygischen Modus. Grundton (Finalis) der untransponierten Skala war der Ton e, Besonderheiten des Phrygischen sind der Leitton über sowie der Ganztonschritt unter der Finalis:

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Einstimmige Schlusswendungen wurden nach ihrem idealtypischen Sitz in einer mehrstimmigen Kadenz benannt. Die Abbildung unten zeigt die beiden wichtigsten Klauseln einer phrygischen Kadenz, die Sopran- und Tenorklausel:

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Auch im Phrygischen wurden wichtige Kadenzen durch Synkopen gekennzeichnet, das folgende Notenbeispiel zeigt zweistimmige phrygische Schlusswendungen:

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Beim Übergang zur Dur-Moll-Tonalität hat sich die Bedeutung der phrygischen Kadenzen gewandelt. Finden sich im 16. Jahrhundert noch phrygische Kadenzen ganz am Ende von Kompositionen, lässt sich in den Kantional- und Choralsätzen des 17. und 18. Jahrhunderts beobachten, dass diese hier nicht mehr für Schlüsse ganzer Kompositionen eingesetzt werden. Ein Grund hierfür könnte sein, dass phrygische Kadenzen nicht mehr als vollwertige Ganzschlüsse, sondern vielmehr ›öffnend‹ im Sinne eines Halbschlusses aufgefasst worden sind. Terminologisch bietet es sich daher an, zwischen einer phrygischen Kadenz (Ganzschluss) und einer phrygischen Wendung (Halbschluss) zu unterscheiden.

Für vierstimmige Aussetzungen phrygischer Wendungen sind zwei verschiedene Sekundschritte aufwärts in der Oberstimme charakteristisch. Sowohl der Aufwärtsschritt in die Oktave als auch die Aufwärtsbewegung in die Quinte betonen das Öffnende der phrygischen Wendung und lassen sich in Analogie zur Sprache auffassen: Als Heben der Stimme wie bei einer Frage (lat. Interrogatio = Frage).

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Vielleicht liegt in den genannten Gründen die Ursache dafür, dass in Vokalmusik des 17. Jahrhundert die phrygische Wendung (bzw. der phrygische Halbschluss) oft zur Vertonung inhaltlich bedeutungsvoller Fragen eingesetzt worden ist. Beachten Sie in dem folgenden Beispiel aus der Arie »Apportator son io« der Oper L'Olimpiade (2. Akt) von G. B. Pergolesi die phrygischen Wendungen zu der Frage »Dimmi perché?«, insbesondere die Wirkung der aufwärtsführenden Gesangsstimme (»perché?)«, die melodische Steigerung in der zweiten Frage gegenüber der ersten (»Dimmi«) sowie die erwartungsvollen Generalpausen:

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Quelle: YouTube

Johann Sebastian Bach vertont in seiner Matthäuspassion die verzweifelte Frage »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« mit Hilfe einer phrygischen Wendung. Beachten Sie in der Melodie die ›seufzenden‹ Abwärtsbewegungen zum Anfang sowie den verminderte Dreiklang zur Wiederholung der Wörter »Mein Gott«, harmonisch den verminderten Septakkord zum Wort »Gott« sowie die melodisch aufwärts führende Vertonung der Frage »Warum hast Du mich verlassen?«. Eine weitere Besonderheit zeigt sich auch in der entlegenden Tonart es-Moll, die – vielleicht auf Grund der Vorbildfunktion dieser Stelle – in vielen Werken späterer Zeit symbolisch bzw. als ›Tonart des Todes‹ verwendet worden ist:

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J. S. Bach - Matthäus-Passion, Evangelist: Peter Pears, KLeitung: Otto Klemperer, Columbia STC 91200–91203, Deutschland 1961, Public Domain.

Mustergültige Fragevertonungen in dem hier beschriebenen Sinne finden sich darüber hinaus am Ende des Dialogs zwischen Tamino und dem Tempelpriester. Die Fragen des verunsicherten Taminos »Wann also wird die Decke schwinden?«, »Wann wird das Licht mein Auge finden?« und »Lebt denn Pamina noch?« am Ende des Rezitativs vertont Wolfgang Amadeus Mozart in der ›Zauberflöte‹ KV 620 durch phrygische Wendungen. Das folgende Notenbeispiel zeigt die erste dieser Fragen:

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W. A. Mozart, Zauberflöte, Tamino: Anton Dermota, Ltg.: Herbert v. Karajan
Erstveröffentlichung: 1950, Public Domain.

Selbst im 19. Jahrhundert, z.B. in den Klavierliedern von Franz Schubert, Robert Schumann, Felix Mendelssohn und anderen, ist das bedeutungsvolle Fragen nicht selten noch mit einer phrygischen Wendung verbunden. Das folgende Beispiel entstammt dem ›Morgengruß‹ von Franz Schubert aus dem Zyklus Die schönen Müllerin. Die zweifache phrygische Wendung (g-Moll/A-Dur und f-Moll/G-Dur) ist dabei Teil einer sehr farbigen Harmonisierung eines chromatischen Bassgangs (Lamentobass):

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Tenor: Fritz Wunderlich, Quelle: YouTube

Wie bereits erwähnt, wird in einer phrygischen Klausel auf den Ton ›e‹ die Finalis von unten über einen Ganzton- und von oben über einen Halbtonschritt erreicht. Die Halbschlusswirkung der phrygischen Wendung verstärkt sich, wenn auch der Schritt von unten zur Finalis zu einem Halbtonschritt bzw. Leitton chromatisiert wird (in diesem Fall erklingen in der phrygischen Wendung zwei Leittöne: ›f-e‹ und ›dis-e‹). Der dadurch entstehende Klang wird als übermäßiger Sextakkord bezeichnet, er wirkt wie ein Signal für die ihm folgende Dominante:

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Im Lied ›Wohin‹ aus demselben Zyklus fragt der Wanderer ein Bächlein nach dem Weg. Auch diese Frage vertont Schubert durch eine phrygische Wendung (in e-Moll), wobei durch den chromatische Durchgang ›ais‹ in der Melodie vor dem Halbschlussakkord H-Dur wieder der übermäßige Sextakkord entsteht (›c-e-ais‹):

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Source: Youtube

Gerüstsatz:

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Beide Formen der phrygischen Wendung – sowohl die mit einem als auch die mit zwei Halbtonanschlüssen – finden sich bereits im 18. Jahrhundert. In dem bereits erwähnten Dialog aus der Zauberflöte Mozarts unterstreicht die chromatisierte phrygische Wendung in d-Moll die Frage des Taminos »Ist dies der Sitz der Götter hier?«:

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W. A. Mozart, Zauberflöte, Tamino: Anton Dermota, Ltg.: Herbert v. Karajan
Erstveröffentlichung: 1950, Public Domain.

Und auch gegen Ende des Dialogs erklingt eine chromatisierte phrygische Wendung. Die Chromatik hat hier die Funktion einer klanglichen Steigerung gegenüber der vorangegangenen Frage »Wann also wird die Decke schwinden?« (s.o.):

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W. A. Mozart, Zauberflöte, Tamino: Anton Dermota, Ltg.: Herbert v. Karajan
Erstveröffentlichung: 1950, Public Domain.