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Mensur und Mensuralnotation

Zeitverständnis

In Musik des 15. und 16. Jahrhunderts wird als Mensur oder Mensuralnotation ein komplexes System verstanden, mit dem die Zeitgestaltung von Musik beschrieben worden ist. Um die Begriffe Mensur und Mensuralnotation besser verstehen zu können, ist die Einsicht hilfreich, dass es grundlegende Unterschiede zwischen einem damaligen und heutigen (neuzeitlichen) Zeitverständnis gibt. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus schrieb dazu:

Die absolute, stetige, homogene und unendliche Zeit Isaac Newtons war dem Mittelalter unbekannt. Zeit war nur als Zahl oder Maß einer bestimmten Bewegung oder eines bestimmten Vorgangs begreiflich [...] 4 Ein musikalischer Zeitwert konnte auch nach Minuten oder Sekunden bestimmt werden; aber die Minute oder Sekunde war dann als Bruchteil des Maßes der Sonnen- und Mondbewegung zu verstehen, nicht als ein durch Konvention festgesetztes Maß der absoluten Zeit.

Carl Dahlhaus, »Zur Theorie des Tactus im 16. Jahrhundert«, in: Archiv für Musikwissenschaft 17 (1960), S. 22–39, hier S. 25.

Musik wurde also gemessen durch eine Bewegung (die der Sonne, des Mondes, des Pulses usw.) auf der einen Seite und durch Verhältnisse von Notenwerten auf der anderen.

Verhältnisse von Notenwerten

Das Verhältnis zwischen Notenwerten wurde mit den Begriffen Modus, Tempus und Prolatio bezeichnet:

  • der Modus beschrieb das Verhältnis zwischen den Noten Longa und Brevis
  • das Tempus beschrieb das Verhältnis zwischen den Noten Brevis und Seminbrevis und
  • die Prolatio beschrieb das Verhältnis zwischen den Noten Semibrevis und Minima.

Bedenkt man, dass unsere heutige ganze Note (also die heute größte Note in Bezug auf den Takt) früher den Namen Semibrevis hatte, handelt – aus heutiger Sicht – das mittelalterliche Notensystem von ausgesprochen großen Notenwerten:

Hermann Finck, Practica musica [...], Wittenberg 1556.

Zwei- und dreiteilige Unterteilungen

Das Prinzip der Mensuralnotation basiert auf der Idee, eine Note entweder in drei Teile oder in zwei Teile teilen zu können. Die Zahl 3 galt dabei als vollkommen bzw. göttlich (= Trinität), die Zahl 2 dagegen als unvollkommen und menschlich (der Mensch hat zwei Arme, zwei Beine, zwei Augen usw.). Diese Unterteilungen waren insbesondere auf der Ebene des Tempus (also zwischen der Brevis und ganzen Note) und der Prolatio (also zwischen der ganzen und halben Note) gebräuchlich.

Pietro Aron, Thoscanello de la musica, Venedig 1523.

In der Abbildung oben sind am oberen Rand die Zeichen sehen, an denen man die jeweilige Mensur erkennen kann. Für die PROLATIONE PERFECTA ist in der Musikwissenschaft auch der Name Prolatio major, für die PROLATIONE IMPERFECTA ist auch der Name Prolatio minor gebräuchlich:

Auf der Ebene von Tempus und Prolatio ergeben sich die folgenden Teilungsmöglichkeiten:

  1. Tempus perfectum und prolatio major
  2. Tempus perfectum und prolatio minor
  3. Tempus imperfectum und prolatio major

1. Tempus perfectum und prolatio major

Der Kreis als vollkommenes (perfektes) Zeichen steht für die Dreiteilung der Brevis (Tempus perfektum), der Punkt in dem Kreis für die perfekte Prolatio (Prolatio major). In diesem Fall wird eine Einheit also in 3 Teile und diese wiederum in jeweils 3 Teile unterteilt:

In moderner Notation lässt sich dieses Schema in einen 9/4-Takt übertragen. Über den 9/4-Takt schreibt Johann Philipp Kirnberger 1776:

Der aus dem 3/2 entstehende Neunvierteltackt von drey triplirten Zeiten kömmt zwar selten vor, weil man statt feiner sich des 9/8 Tackts bedienet. Man begreift aber leicht, daß beyde Tacktarten in Ansehung des Vortrags und der Bewegung , die sie bezeichnen, sehr von einander unterschieden sind. Im Kirchenstyl, wo überhaupt ein schwerer und nachdrücklicher Vortrag mit einer gesetzten und langsamen Bewegung verbunden ist, ist der 9/4 dem 9/8 Takt weit vorzuziehen, denn der nemliche Gesang, der in jenen Taktart einen ernsthaften Ausdruck annimmt, kann in dieser leicht den Schein des Tändelnden gewinnen [...]

Johann Philipp Kirnberger, Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, Zweite Abtheilung, Berlin und Königsberg 1776, S. 128 f.

2. Tempus perfectum und prolatio minor

Der Kreis als vollkommenes (perfektes) Zeichen steht wieder für die Dreiteilung der Brevis (Tempus perfektum), der fehlende Punkt in dem Kreis für die imperfekte Prolatio (Prolatio minor). In diesem Fall wird eine Einheit also in 3 Teile und diese wiederum in jeweils 2 Teile unterteilt:

In moderner Notation lässt sich dieses Schema in einen 3/2-Takt übertragen. Dieses Taktschema findet sich häufig in Couranten und gelegentlich auch in Sarabanden des 18. Jahrhunderts, z.B. in der Sarabande der Suite in g-Moll HWV 432:

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3. Tempus imperfectum und prolatio major

Der offene Kreis als unvollkommenes Zeichen steht für die Zweiteilung der Brevis (Tempus imperfektum), der Punkt in dem Kreis für die perfekte Prolatio (Prolatio major). In diesem Fall wird eine Einheit also in 2 Teile und diese wiederum in jeweils 3 Teile unterteilt:

In moderner Notation lässt sich dieses Schema in einen 6/4-Takt übertragen. Johannes Brahms hat diese Taktart häufig verwendet, z.B. in seinem Chorsatz im Herbst Op. 104, Nr. 5:

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J. Brahms, Liebesliederwalzer und andere Chorwerke [op. 42, op. 93a, op. 104],
Ensemberlino Vocale, Ltg.: Ulrich Kaiser, 4-012831-84013-3, 1994, Lizenz: CC BY-SA.

4. Tempus imperfectum und prolatio minor

Der offene Kreis als unvollkommenes Zeichen steht für die Zweiteilung der Brevis (Tempus imperfektum), der fehlende Punkt im Kreis für die imperfekte Prolatio (Prolatio minor). In diesem Fall wird eine Einheit also in 2 Teile und diese wiederum in jeweils 2 Teile unterteilt:

Tempus diminutus

Der senkrechte Strich durch den Kreis (Tempus perfectum diminutum) und durch den Halbkreis (Tempus imperfectum diminutum) bedeutete ursprünglich eine Halbierung der Notenwerte im Hinblick auf die Bezugseinheit bzw. ein schnelleres Tempo (die entsprechenden Zeichen sind in der Abbildung oben grau hinterlegt).

Aufgaben

  • Überlege dir verschiedene Möglichkeiten, das Schema Tempus imperfectum prolatio minor in moderner Notation umzusetzen. Finde Stücke, die sich als Umsetzung dieses Schema verstehen lassen.
  • Das Zeichen des Tempus imperfectum diminutum findet heute nur noch bei einer bestimmten Taktart Verwendung. Recherchiere den Namen dieser Taktart und finde Musik, die in dieser Taktart notiert worden ist.
  • Recherchiere, welche Taktarten im Wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach sich als moderne Notation des Schemas Tempus perfectum prolatio major verstehen lassen.
  • Für den Tanz der Siciliana ist eine bestimmte Taktart sehr charakteristisch. Recherchiere diese Taktart und benenne das entsprechende Schema der Mensuralnotation, das dieser Taktart entspricht.