Formenlehre: Einheit 1 – Grundbegriffe

Grundbegriffe der musikalischen Form und Syntax, elementare Terminologie, Literatur – PDF


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Form, die äußere und innere Gestalt eines Werkes im Zusammenwirken aller seiner Momente, setzt Formgebung voraus: Aus dem Akt des Formens entsteht eine fertige Form. […] Form ist nicht etwas Statisches, sondern ein Vorgang, und formale Schemata sind nicht schon die eigentliche Form. Musik verläuft in der Zeit, ihre Form entfaltet sich im zeitlichen Verlauf.

(Clemens Kühn: Lexikon Musiklehre, Kassel 2016, S. 82)

Musik im Zeitverlauf

Phasen der Form und Syntax

Musikalische Sinneinheiten

      

Allgemeines

Beginn | Eröffnung

Motiv – Phrase – Thema

Form = Gestalt ganzer Sätze oder mehrsätziger Werke
Syntax = Gestalt des Themenbaus und der Phrasengliederung

Entwicklung | Verbindung | Überleitung

Variante – Fortspinnung – Sequenz

Schluss | Ruhepunkt

Kadenz

Elemente der Formgebung

Formungsweisen bzw. Formfunktionen

Hartmut Fladt in Ulrich Kaiser: Gehörbildung, Bd. II, Kassel 2000, S. 411

(1) Beginnen | Einleiten

»Jeder Beginn ist sowohl ein ›Schon‹ als auch ein ›Noch nicht‹«

(2) Sich entwickeln | Überleiten

kontinuierlich, stetig (fest gefügt) oder reihend, sprunghaft (locker gefügt)

(3) Sich entsprechen | Sich ändern

etwa: Identität, Symmetrie, Ähnlichkeit – Variante, Kontrast, Andauern

(4) Endigen

vorläufig (Zäsur, Binnenschluss) oder endgültig schließend (Kadenz, Abbruch)

Verhältnis des Aufeinanderfolgenden

Clemens Kühn: Formenlehre der Musik, Kassel 2007, S. 13

(a) Wiederholung | Identität

Gedanken und Teile werden unverändert aufgegriffen; sie sind einander gleich

(b) Variantenbildung | Ähnlichkeit

Gedanken und Teile werden abgewandelt; sie sind einander ähnlich

(c) Verschiedenheit | Kontrast

Gedanken und Teile setzen sich voneinander ab; sie sind gegensätzlich

Grundlegende Strukturprinzipien

Erwin Ratz: Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1951, S. 21ff.

fest gefügt (in sich abgeschlossen)

etwa: Hauptthemen, Liedformen, Reprisenteile, Arien

locker gefügt (offen gehalten)

etwa: Seitensätze, Überleitungen, Durchführungen, Rezitative

Musikalische Logik

Übergeordneter Zusammenhang

Typen nach Manfred Dings: Reihung, Gruppierung, Fortspinnung, Entwicklung

Variatives Denken

Motivisch-thematische Arbeit, entwickelnde Variation, Substanzgemeinschaft

Zyklizität | Wiederkehr

Einheit in der Mehrsätzigkeit, Thementransformation, finale Synthese

Symmetrie | Spiegelbildlichkeit

Entsprechungen im Zeitverlauf (vertikale Achse) oder im Tonraum (horizontal)

Gesetze der Gestaltpsychologie

Max Wertheimer: Lehre von der Gestalt, Berlin 1923

Gesetz der Nähe

Elemente mit geringen Abständen werden als zusammengehörig identifiziert

Gesetz der Ähnlichkeit

Einander ähnliche Elemente werden als zusammengehörig wahrgenommen

Gesetz der Kontinuität

Elemente, die Vorheriges fortsetzen, werden als zusammengehörig erkannt

Gesetz der Prägnanz

Elemente, die sich von der Umgebung abheben, werden bevorzugt

Formtypen nach Marie-Agnes Dittrich: Bogen, Pfeil, Kreis, Kaleidoskop
Autor: Wendelin Bitzan, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Graphische Analogien

Marie-Agnes Dittrich: Musikalische Formen, Kassel 2011, S. 8f.

Bogen: Hauptteil – Binnenteil – Reprise

Einfache Reprisenformen, Arien, Sonatensätze, Rondos, Konzertsätze

Pfeil: Vermeidung einer Rückkehr

Einleitungen, Expositionen, Barformen, dramatische Eskalation

Kreis: Fortwährende Wiederholung

Ostinati, Klangflächen, Minimal Music, aufgehobene Zeit

Kaleidoskop: Stetige Neukombination

Isorhythmie, Reihentechniken, Aleatorik, Polystilistik

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Ludwig van Beethoven: Streichquartett c-Moll op. 18 Nr. 4 (1801), IV. Satz: Allegro
Quellen: IMSLP | YouTube

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Luigi Cherubini: Streichquartett Nr. 1 Es-Dur (1814), III. Satz: Scherzo. Allegretto moderato
Quellen: IMSLP | YouTube

Aufgaben zur Einheit 1
  1. Lesen Sie den Artikel »Form« aus dem Lexikon Musiklehre von Clemens Kühn (Kassel 2016, S. 82–85).
  2. Hören Sie den Beginn des IV. Satzes aus Beethovens Streichquartett op. 18 Nr. 4 und verfolgen Sie den Notentext (siehe oben).
  3. Gliedern Sie die Passage in drei Sektionen (Anfangsteil, Mittelteil, variierte Wiederkehr des Anfangsteils).
  4. Gliedern Sie die erste Sektion nach den Kriterien, die Sie als Elemente oder Phasen der Formgebung kennengelernt haben
    (etwa: Beginnen, Entwickeln, Endigen).
  5. Machen Sie sich mit dem historischen Überblick zu Gattungen der europäischen Musikgeschichte vertraut.