(no ratings)

Die Synkopendissonanz


Inhaltsverzeichnis

Die wichtigste Ausnahme von der Thesis-Arsis-Regel bildet die Synkopendissonanz, die Zarlino deshalb gestattet, weil die Singstimme bei synkopierten Semibreven gleichsam überbindet und den Ton nicht wiederholt, so daß der Eindruck des Vorhalts entsteht (»si ode quasi una sospensione«; 1558, Buch 3, Kap. 47, S. 197). Die Regeln für den Vorhalt sind:

  1. Der erste Teil der synkopierten Note muß konsonant sein (= vorbereiteter Vorhalt);
  2. die restlichen Stimmen müssen stufenweise fortschreiten;
  3. der synkopierte Ton muß zur nächsten Konsonanz abwärts geführt werden (Sekunde zur Terz, Quarte zur Terz, Septime zur Sexte, None zur Dezime; nur ausnahmsweise darf die Sekunde in den Einklang, die Quarte in die verminderte Quinte aufgelöst werden [...].

aus: Claude v. Palisca und Werner Krützfeld, Artikel Kontrapunkt, Renaissance, in: MGG Online, hrsg. von Laurenz Lütteken, Kassel, Stuttgart, New York 2016 ff., erstmalig veröffentlicht 1996, online veröffentlicht 2016.

Die Synkopendissonanz als Septime

Das Phänomen einer Synkopendissonanz lässt sich am einfachsten verstehen, wenn man von einer einfachen kontrapunktischen Parallelbewegung in Sexten (oder auch Terzen) ausgeht:

--:-- / --:--

Wird in diesem Beispiel das Fortschreiten der oberen Stimme durch eine Überbindung verzögert (zu sehen beim Berühren der Abbildung), erklingt ein dissonantes Septimenintervall. Eine solche Verzögerung in einer zweistimmigen kontrapunktischen Wendung wird als Synkopendissonanz (hier: Septimen-Synkopendissonanz) bezeichnet. Wie in dem Zitat (oben) erwähnt, ist es hilfreich, sich den Ablauf einer Synkopendissonanz in drei Stationen vorzustellen:

--:-- / --:--
  1. Vorbereitung (auf metrisch leichter Zeit)
  2. Dissonanz (die Verschiebung auf metrisch schwerer Zeit)
  3. Auflösung (auf metrisch leichter Zeit).

Als dissonierend gilt also derjenige Ton des dissonanten Intervalls, der zur Synkope gehört (= rot). Der andere Ton des dissonanten Intervalls gilt als konsonant (= blau). In der Praxis treten bei Septimen-Synkopendissonanzen sowohl an der Vorbereitungs- als auch an der Auflösungsstation oft andere Konsonanzen als die in den bisherigen Beispielen gezeigten Sexten auf. Die grauen Noten in dem folgenden Beispiel deuten denkbare und stimmführungstechnisch sinnvolle Möglichkeiten an der Vorbereitungs- und Auflösungsstation an:

Die Synkopendissonanz als Sekunde

Vertauscht man die beiden Stimmen des Beispiels oben, das heißt, erklingt die verzögerte Stimme in der Unterstimme, ergibt sich anstelle der dissonanten Septime eine dissonierende Sekunde (das Komplementärintervall zur Septime). In diesem Fall wird auch von einer Sekund-Synkopendissonanz gesprochen.

--:-- / --:--

In der musiktheoretischen Fachsprache haben sich für die Stimmen einer Synkopendissonanz in Anlehnung an Giovanni Maria Artusi (L'arte del contraponto, 1598) zwei Fachbegriffe etabliert:

Fachbegriff

Erklärung

Agensstimme

Die Stimme, die regulär fortschreitet, wird als Agensstimme bezeichnet (von lat. agere = treiben, handeln). Sie ist handelnd und gilt als konsonierende Stimme, weil sie sich relativ frei bewegen kann und dabei eine Dissonanz auslöst. In den nachstehenden Notenbeispielen wird diese Stimme blau gekennzeichnet.

Patiens

Die Stimme, die verzögert wird, heißt Patiensstimme (von lat. pati = leiden, erdulden). Sie gilt als dissonierende Stimme, weil sie durch die Bewegung der Agensstimme eine Dissonanz erleidet. Sie ist in Ihrer Bewegung eingeschränkt und muss neben der Vorbereitung auch stufenweise abwärts aufgelöst werden. In den folgenden Notenbeispielen ist diese Stimme rot gekennzeichnet.

Metaphern

In der historisch einflussreichen Beschreibung der Synkopendissonanz hat Giovanni Maria Artusi (L'arte del contraponto. Venedig 1598, S. 40) den satztechnischen Sachverhalt mit einem Zweikampf verglichen. Nach Artusi liegt die Verantwortung für das Zustandekommen einer Synkopendissonanz nicht bei der Stimme mit der Synkope, weil diese sich ganz und gar passiv verhalte. Vielmehr sei es die Gegenstimme, welche die Dissonanz verursache, indem sie der passiven Stimme durch eine gezielte Bewegung "einen Hieb versetzt".

Man kann sich diesen Vorgang auch mit einem Beispiel aus der heutigen Zeit veranschaulichen: Stellen Sie sich vor, Sie stehen dicht gedrängt in einer U-Bahn. Ihr rechter Fuß steht ruhig neben dem Fuß eines Nachbarn, die U-Bahn ruckelt und Sie müssen mit Ihrem rechten Fuß einen Schritt machen, um nicht umzufallen. Dabei treten Sie Ihrem Nachbarn (natürlich aus Versehen) auf dessen Fuß. Dieser verspürt einen Schmerz, erschrickt, und zieht seinen Fuß daraufhin weg (die Farben beim Berühren der Abbildung entsprechen den Farben in den Notenbeispielen oben).

Mehr über das Thema lesen Sie in dem Tutorial Die Synkopendissonanz in der Mehrstimmigkeit .

Materialien

  • Intervalle aus mathematisch-physikalischer und kontrapunktisch-satztechnischer Sicht